Während meiner Ausbildung in Traditioneller Chinesischer Medizin bei der Deutschen Ärztegesellschaft für Akupunktur (DÄGfA) kam ich im Frühjahr 2004 bei den Akupunkturtagen in Bad Nauheim durch Zufall in den Kurs eines amerikanischen Dozenten namens David Euler.
Die Kurse, die mich interessiert hatten – Pulsdiagnostik und japanische Arzneitherapie (Kampo) – und andere weiterführende Kurse
waren wegen mangelndem Interesse der DÄGfA – Studenten ausgefallen. Also wurden etwa 50 Menschen zu dem „Amerikaner“ in den Kursraum geschickt. Was dazu führte, dass ich auf einen Tisch steigen
musste, um überhaupt sehen zu können was David Euler da an einem Freiwilligen demonstrierte.
Er tastete auf dem Bauch und am Hals des Patienten einige schmerzhafte Punkte und setzte dann Nadeln an Händen und Füßen, die die Schmerzen an den getasteten Stellen verschwinden ließen. Außerdem
verwendete er sehr dünne Nadeln mit Führungsröhrchen, die er nur ganz oberflächlich in die Haut eindringen ließ – und es half trotzdem.
Diese Technik war mir sehr vertraut. Es ist die japanische, die meine Mutter auch anwendet und mit der ich groß geworden bin. Bei der in Deutschland üblichen Ausbildung lernt man, mit dickeren
Nadeln tiefer einzustechen und möglichst ein Nadelgefühl beim Patienten auszulösen, eben die chinesische Nadeltechnik. Damit hatte ich mich nie besonders anfreunden können. Vor allem, weil ich
wusste, dass die vorsichtige, japanische Technik ebenfalls – meiner Meinung nach sogar bessere - Wirkung zeigt.
Nach dieser Demonstration gab uns David Euler einen Einblick in die seiner Arbeit zugrunde liegende Theorie.
Es handelt sich dabei um die alten Texte Su Wen, Ling Shu und Nan Ching – die wichtigsten Grundlagen der Traditionellen Chinesischen Medizin.
Von diesen Texten hatte ich in meiner bisherigen Ausbildung zwar schon etwas gehört, eben über die fünf Elemente (oder Wandlungsphasen), über Yin und Yang und viele andere theoretische Begriffe. Aber noch nie hatte ich diese bis zu 3000 Jahre alten Schriften als Vorlage für die direkte, praktische Arbeit am Patienten kennen gelernt.
Teilweise liegt das daran, dass über mehrere Jahrhunderte hinweg die Akupunktur im herrschaftlichen China als verpönt galt und das alte Wissen nicht mehr lückenlos weitergegeben wurde. Erst im 20. Jahrhundert wurde in China die Akupunktur sozusagen wiederentdeckt und dann auch nach Europa „exportiert“. Unter dem kommunistischen Führer Mao Tse Tung geriet die Interpretation und Ausübung der alten Medizin unter politischen Einfluss und Teile davon verloren an Bedeutung. Behandlungsstrategien wurden vereinfacht, um sie der breiten Öffentlichkeit und damit auch dem einfachen Volk zugänglich zu machen.
Die Weitergabe des Wissens aus den alten Texten wurde dagegen in Japan traditionell gepflegt und Akupunktur blieb dort ein angesehener Teil der Medizin. So kommt es, dass sich die praktische Anwendung der Akupunktur in Japan auch heute noch sehr nah an den Schriften der Traditionellen Chinesischen Medizin orientiert.
Nach den in Bad Nauheim gewonnenen Eindrücken war mein Interesse geweckt. Jedes Mal, wenn David Euler in Deutschland Vorlesungen gab, nahm ich teil. Ich erfuhr, dass er Meisterschüler und dann Mitarbeiter von Kiiko Matsumoto war.
Kiiko Matsumoto ist eine japanische Akupunktur - Meisterin, die als einer der wenigen Menschen auf der Welt noch in der Lage ist, die alten Texte zu lesen und zu interpretieren. Sie war Meisterschülerin von Kiyoshi Nagano (gest. 2003), an dessen Seite sie viele Jahre gelernt und gearbeitet hat. Nagano besaß neben seinem immensen Wissen über die alten Texte außergewöhnliche Fähigkeiten in der Pulsdiagnostik.
Kiiko Matsumoto aber stellte über die Jahre fest, dass sie es in ihrer Lebenszeit nicht erreichen würde, anhand des Pulses eines Patienten als einziges diagnostisches Kriterium eine
Akupunkturbehandlung korrekt durchzuführen.
Deshalb begann sie, den Bauch und andere Körperareale der Patienten zu untersuchen und dort Veränderungen zu finden, die mit den Befunden und Behandlungsprotokollen von Meister Nagano
korrelierten. In fünfzehn Jahren intensiver Arbeit in diesem Sinne entwickelte Kiiko Matsumoto ihren eigenen Stil.
David Euler arbeitete und lernte mehrere Jahre ebenfalls an der Seite von Kiyoshi Nagano und ging seinen Weg
nach dessen Tod weiter neben Kiiko Matsumoto.
Beide waren über viele Jahre hinweg Co – Directors an der Harvard Medical School der Harvard Universität in Boston/USA und leiteten dort zusammen mit Dr. Joseph Audette das ärztliche Ausbildungsprogramm für Akupunktur.
Kiiko Matsumoto liest und erforscht unablässig die alten Texte und überträgt dieses Wissen jeden Tag in ihre eigene Arbeit am Patienten.
David Euler ist für mich ein begnadeter Lehrer, Meister der Akupunktur und Übersetzer dieser komplizierten und für den westlichen Geist schwer verständlichen Zusammenhänge. Er ergänzte somit Kiiko Matsumoto perfekt und letztendlich konnten nur so zwei grandiose Lehrbücher entstehen, die mich seit Jahren faszinieren und begleiten.
Nachdem ich im April 2008 von der Ausbildungsmöglichkeit für Akupunktur an der Harvard Medical School in Boston erfahren hatte, entschied ich mich für dieses neunmonatige Abenteuer in den USA. Der Kurs „Structural Acupuncture for Physicians“ im Rahmen des Harvard - Programms “Continuous Medical Education” (CME) war für mich bisher die wichtigste und wertvollste Ausbildung.
Meine ärztliche Arbeit hat sich durch dieses Studium verändert und täglich fasziniert mich, dass 3000 Jahre alte Worte und deren in die Praxis umgesetzte Bedeutung heute noch wahr sind.